ALTER JÜDISCHER FRIEDHOF
Gegenüber einem jener inflationären orthodoxen Gottesacker, der mit einer neuen Kapelle versehen wurde, weiß mit hellblauem Dachanstrich und goldener Kuppel, liegt der Alte Jüdische Friedhof von Czernowitz. Schon von weitem sieht man die Umrisse des Bet- und Trauerhauses, zuerst den Davidstern, wenn man die Augen aufhält, wie eine Kompassnadel. Man läuft drauf zu, die Dimensionen werden klarer. Die Mauern stehen roh, die Fenster eingeschlagen oder kaputt, die metallene Kuppel schwarz, abblätternder Film. Erst innen erblickt man das ganze Ausmaß der Baufälligkeit; der Putz an den Wänden der Leichenhalle ist zum Teil komplett abgebröckelt, in den Seitenräumen sind die Dächer schutzlos. Etwas von maroder Schönheit, die ihre Würde behalten hat, vermittelt das Innenleben dieses Hauses. Licht dringt hinein durch die Öffnungen unter der Kuppel in dieser Mittagsstunde, in der niemand hier ist, außer mir. Wind und Zeit. Die Sonnenstunde. Die Gräber Uhren. Ablesbar die Zeit. Ein warmer Hauch. An diesem Mittag sind es Sonnenuhren, die weder vor- noch nachgehen. Der Besucher, der die Schatten sucht, wird in Helligkeit getaucht. Niemand ist hier außer mir und den Uhren. Zwischen den Reihen sind Sträucher und Büsche wild emporgewachsen. Sie überwuchern schon die Wege. Alles sprießt und den Steinen müssen Bärte gewachsen sein. Die Uhren sind mit Blütenstaub bedeckt, auch mit dem Schnee der Pappel. Wenn jemand spräche, spräche er hier über der Stadt. Ich dringe durch das Grün tiefer in diesen Garten ein, der sich hinstreckt auf dem Hügel. Spräche jemand von Gott, spräche er über der Stadt. Niemand spricht. Wenn man genau hinhört, summen die Uhren. Ihre Rücken stehen aufrecht, teils vom Wind in eine Schräge versetzt. An einer Wegscheide ändern sich Farbe und Symbole. Zu den Uhren gesellen sich Tafeln. Wenn man genau hinsieht, sind die Tafeln vor das Gesicht gehaltene Hände. Niemand sieht. Es gibt wenig Menschen, wie der Dichter sagte. All das Grün in diesem Garten atmet, als würden neugeborene Augen in einer Sänfte an einen Ort getragen werden, von dem niemand weiß. Spräche jemand vom Hügel über der Stadt, spräche er im Zorn? Schon wird der Garten zu einer Wiese, erreicht man sein vorläufiges Ende. Vom Grasrain blicke ich auf den Entwurf der Lebenden. Sehe die Türme und Schlote der Stadt. Etwas krümmt sich, biegt sich, hält die Hälften im Maul. Ein Hund mit zwei Köpfen hinter dem Zaun? Spräche der Narr von seinem Hügel über der Stadt, spräche er dann von Gott? Niemand ist hierher gekommen. Einer vielleicht. Ein anderer. Fragt doch den Hund mit den zwei Köpfen. Wie antwortete er? Spräche er von den Uhren, den Tafeln, den Glockenblumen. Von der Sonnenstunde, wo alles still war. Bis auf das Summen, das Ticken. Vor dem Ausgang die Pumpe. Ich trete ans Wasser, wie immer fließt es. Gehe die Straße hinunter und sehe, sie fahren die Toten in ihren Acker aus Blattgold, und sehe wieder die Farben, das Kreuz, und wenn sie reden, höre ich Furcht und Vergessen.
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