Ein Liveblog führen, während einer großen Veranstaltung - und dabei Zeit finden für lange Interviews? Zur Leipziger Buchmesse 2015 bloggte, berichtete ich für Deutschlandradio Kultur - und stellte einen Fragebogen zusammen, der wenig Raum für weitschweifige Antworten lässt: kurze, schnelle, oft fiese Fragen, die ich u.a. Verlegerinnen, Journalisten und Buchbloggern stellte.
Sprachsalz ist eine tolle Gelegenheit, mehrere Autorinnen und Autoren zu befragen - darüber, was und wie sie lesen, was ihnen wichtig ist, womit sie hadern. Schnelle, aber intensive Gespräche.
Bisher erschienen: Safiye Can (Link) | Michael Stavaric (Link)
Christoph Simon
Lebt in Bern, Schweiz
Es ist schon sehr lange her, als sich der junge Schriftsteller Christoph Simon im Bahnhofsrestaurant in Solothurn für ein Interview mit mir an den Tisch setzte. Heute ist die Kneipe durch ein Bistro ersetzt worden, aber der Autor wirkt noch immer so frisch wie damals. Von seinem ersten Roman mit dem Titel «Franz oder warum Antilopen nebeneinander laufen» sind bis heute Bücher erschienen, die allesamt in jedes Bücherregal gehören.
Irgendwie machte er dann in seiner Karriere eine Art Umkehrschub: Nachdem er Romane schrieb, an Literaturfestivals und in Literaturhäusern las, steht er nun auf Bühnen als literarischer Kabarettist oder als Poetry Slammer vor 800 Menschen in einer riesigen Halle in Zürich. Der Verfasser dieses Artikels war Zeuge des soeben erwähnten Anlasses. Da fetzten, lallten und kalauerten die anderen Spoken-Worder, was das Zeug hielt, und dann tritt dieser Christoph Simon völlig unaufgeregt und entspannt ans Mikro und beginnt zu reden. Ohne Halligalli erzählt er Sachen dergestalt, dass der Applaus seine Mitbewerbenden von der Bühne fegt. Und irgendwie genau so sind seine Bücher. Beginnt man sie zu lesen, dann nehmen seine Geschichten ganz sachte Fahrt auf, bis es zu spät ist, aufzuhören.
UHA
Bücher-Auswahl:
«Franz oder warum Antilopen nebeneinander laufen» 2001; «Planet Obrist» 2005; «Spaziergänger Zbinden» 2010; «Viel Gutes zum kleinen Preis» 2011 alle Bilger Verlag Zürich.
Was liest du gerade? Im Print?
Ein Sachbuch, „Tribal Leadership“ von David Logan – um mehr über den Umgang mit egozentrischen „Ich bin der Größte“-Typen zu lernen.
Liest du gerade digital?
„Tribal Leadership“: Das erste Buch, das ich digital lese. Auf dem Laptop, sehr umständlich.
Nenn mir ein Buch, das du liebst.
Richard Ford: „Unabhängigkeitstag“
Das liebe ich auch sehr! Hast du ein Familienmitglied, dessen Leben ein guter Roman wäre?
Wahrscheinlich meine Mutter: Das wäre dann eine trostlose „Wunschloses Unglück“-Handke-Geschichte.
Ein Schriftsteller, den du gern interviewen würdest?
Du meinst: Ihm einfach stundenlang als Fliege an der Wand lauschen? Er ist schon tot – aber: Kurt Vonnegut.
Hast du im letzten Jahr ein Buch an ein Kind verschenkt?
Ja, viele: Ich habe drei Kinder.
Hast du eine Empfehlung?
Es gibt Bilderbücher eines Südkoreaners, ohne Worte, bei denen auf jeder Seite Geschichten erzählt werden, mit 1000 Figuren. Kein Wimmelbuch: Es geht um eine verschwundene Geburtstagstorte. „Die Torte ist weg“ von Thé Tjong-Khing.
Sind Bücher dein Lieblingsmedium?
Ja.
Werden TV-Serien immer beser?
Keine Ahnung. Denen gehe ich aus dem Weg: zu zeitintensiv.
Werden Videospiele immer besser?
Noch weniger Ahnung.
Wird Literatur immer besser?
Nein – aber auch nicht schlechter. Sie wandelt sich, spiegelt die Welt, wird besser, wird schlechter… Ich finde jedenfalls immer wieder etwas, das mich umhaut!
Ein Buch, von dem du wünschst, es wäre nie geschrieben worden?
Solche Bücher liest man ja nicht fertig. Es gibt ein paar penetrante Autoren, die immer wieder mit was kommen – und du hast schon alle Hoffnung fahren lassen [dass dir die Bücher gefallen könnten]. Die stören dann nur noch.
Stell dir vor, Zeitreisende würden ein Buch aus der Geschichte löschen wollen – und dein Tod könnte das Buch retten. Für welches Buch würdest du sterben, damit es nicht gelöscht wird?
Shakespeare.
Was wäre schlimmer: Falls morgen alle Musik verboten wird… oder alle Bücher?
Klingt beides nach einer sehr lieblosen, lebensunwerten Welt.
Schreibt dein Partner?
Nein.
Hast du schonmal ein Buch abfotografiert und online gepostet?
Nein.
Rezensierst du Bücher?
Nein.
Hattest du gute Deutschlehrer?
Ich hatte auf dem Gymnasium zwei sehr gute Lehrerinnen, die mich einfach haben machen lassen.
Hattest du mehr gute als schlechte Deutschlehrer?
Ja.
Hattest du mehr gute als schlechte Lehrer überhaupt?
Ja.
Hast du schonmal einen Manga gelesen?
Nein.
Hast du einen Lieblings-Superhelden?
(lacht) Batman – er hat so eine dunkle Seite. Aber die Christopher-Nolan-Filme mag ich nicht.
Hast du heute schon jemanden gesehen, den du nicht magst?
Ich bin gerade erst aufgestanden. Aber: Hier ist alles sehr… ein Freundeskreis.
Sind Autorinnen und Autoren im Schnitt hübscher als Alltagsmenschen auf der Straße?
(lacht) Nein.
Sind sie im Schnitt gepflegter?
Ich glaube schon. Dass muss eine Frage des Selbstbilds und des ständigen Hinterfragen sein.
Hast du dich schonmal auf ein Stipendium beworben?
Ja. Und auch schon einige gekriegt. Der Schweiz ist Literaturförderung sehr wichtig.
Verbringst du mehr Zeit mit Lesen als im Internet?
Ich würde gern ja sagen – aber wahrscheinlich nicht.
Hast du einen Nobelpreis-Favoriten?
Tomaž Šalamun, der slowenische Autor, leider verstorben: Das habe ich mir immer gewünscht.
Kennst du einen deutschen lebenden AutorIN, der oder die den Nobelpreis verdient?
In der deutschen Literatur bin ich nicht sehr bewandert.
In der Schweiz?
Ich würde jetzt eher in Österreich suchen – aber ich muss zugeben, dass ich keinen Überblick habe.
In welchem Kultur-/Sprachraum entdeckst du die meiste Literatur?
In Amerika – auch Südamerika.
Gibt es aktuell schlechte Bücher, über die du nicht öffentlich sagst, dass sie schlecht sind, um eine andere Person nicht zu verletzen oder beruflich zu schaden?
Ja.
Hast du die „Hunger Games“ gelesen oder gesehen?
Nein.
„Twilight“?
Nein.
„Harry Potter?“
Nein.
Hast du heute schon Fotos gemacht und irgendwo geteilt?
Nein.
Gibt es Autoren, von denen du jedes neue Buch liest?
Nein.
Leihst du aktuell Bücher in Bibliotheken?
Ja.
Bist du unter dem Weihnachtsbaum die größte Leseratte?
Ja. Aber die Schwiegermutter ist knapp hintendran.
Was war deine bisher schönste Lesung?
Als Besucher: In New York, eine Lesung von Paul Auster. Mein „Spaziergänger Zbinden“ hätte ich ohne Paul Austers „Von der Hand in den Mund“ nicht geschrieben, und ich wollte ihm ein Buch überreichen.
Hast du es Auster überreichen können?
Ich hatte das Buch verpackt, zusammen mit einer Tafel Schokolade, sagte „Swiss Chocolate“ und gab es ihm. Er sagte: „Heavy Chocolate!“
Was war am schlimmsten an deiner schlimmsten eigenen Lesung?
Die schwierigste Lesung war vor drei Wochen: Ich las den Lebenslauf eines Verstobenen, auf seiner Beerdigung. Er hatte mir vorher alles erzählen können. Jeder Satz war da ein letztes Wort.
Liest du zu wenig?
Ja – bestimmt: Wenn ich „Harry Potter“ nicht gelesen habe!
Fehlt dir die Zeit, die du durchs Lesen brauchst, anderswo?
Nein.
Hättest du deinen Alltag besser im Griff, wenn du noch weniger lesen würdest?
Nein.
Deine deutsche Lieblingsstadt?
(grinst) Hausach im Schwarzwald. Wegen José Oliver.
Der schönste Ort, an dem du gelebt hast?
3 Jahre in Basel: Durch das Dreiländereck verströmt die Stadt eine ganze andere Offenheit als der Rest der Schweiz.
Schweiz oder Österreich?
Österreich.
Twitter oder Facebook?
Facebook.
Verdienst du so viel, wie du wert bist?
Oi: Ich verdiene mehr, als ich wert bin!
Kennen dich so viele Leute, wie dich kennen sollten?
Ja. Das „sollte“ hier im Satz ist sehr… Ich habe keinen Anspruch aufs Gekannt-Werden. Ich habe Wünsche daran – aber keinen Anspruch.
Hat du Angst um deine(n) Job(s)?
Nein.
Nenn einen guten kleinen Verlag.
Nur einen? Der gesunde Menschenversand in Luzern.
Glaubst du, in den nächsten zehn Jahren wird in der (deutschen) Buchbranche mehr sterben als neu wachsen?
Wird sich das nicht ungefähr die Waage halten? Natürlich sind Verlage am Schrumpfen – aber wir sind ja auch mit Dutzenden von Dichtern auf Facebook befreundet – oder verlinkt: Die Literatur schrumpft nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele aufhören, zu schreiben.
Sind Graphic Novels Literatur?
Literatur? Sie sind auf jeden Fall Kunst!
Ein Buch, das dich zum Weinen gebracht hat?
Richard Fords „Unabhängigkeitstag“ und Gerhard Meiers „Ob die Granatbäume blühen“.
Von welchem Autor hast du am meisten gelernt?
Ford und Meier.
Sind deine Eltern reich?
Nein. Guter Mittelstand.
Sind deine Eltern reicher als du?
Ja.
Sind deine Eltern gebildet?
Ich bin der Studienabbrecher. Mein Vater hat sich hochgearbeitet, meine Mutter ist Hausfrau.
Liest dein Vater?
Er ist gestorben. Nein: Er hatte Hesses „Lektüre für zwei Minuten“ hinten im Mercedes liegen. Aber er hatte Freude an meinem ersten Buch.
Liest dein bester Freund?
Ich habe zwei – zufällig auch beide Schriftsteller. Aber wir kannten uns vorher – wir sind einfach ALLE Schriftsteller geworden (lacht).
Liest dein Partner so viel wie du?
Nein.
Kennst du eine Fernsehserie, die mehr mit dir gemacht hat als viele Romane?
Auf jeden Fall – ich bin Fernsehkind. „Kung Fu“ mit David Carradine. Ein guter Mensch, der sich wehren kann. (lacht)
Was wäre dein Traum-Land für eine Lesung?
Ich war noch nie in Afrika. Afrika ist groß – das müsste man spezifizieren. Aber ich will dort hin, gerade, weil ich das nicht spezifizieren kann.
Gibt es einen Literaturblog, den du regelmäßig liest?
Tut mir Leid: Habe ich nicht auf dem Schirm.
Gibt es Kritiker, denen du vertraust?
Falls ich „Nein“ sage, klingt das, als ob ich niemandem vertraue: Ich bin schon beeinflussbar, von Kritiken.
Darf jeder wissen, welche Bücher du gelesen hast?
Ja.
Darf jeder wissen, welche Bücher du nicht gelesen hast?
Ja – auch, wenn es sehr peinlich ist, falls ich manche Brocken der Weltliteratur nicht gelesen habe.
Hat dich schon mal eine Szene in einem Buch sexuell erregt?
Ja! Dafür lesen wir doch Bukowski. Also: früh. Jetzt, heute lieber Bilder als Texte.
Liest du eine feste Tageszeitung?
Der Bund, aus Bern.
Sind Bücher aktuell eher hübsch oder eher abstoßend gestaltet?
In der Mehrzahl ansprechend – doch mir gefällt auch der französische Stil sehr: einfach nur der Titel, vor leerem Grund.
Ist Lesen wichtig für Kinder?
Ja!
Ist Literaturlesen für Erwachsene wichtig?
Nicht zwingend – aber wer einen Draht dazu findet, wird von Literatur bereichert, beschenkt… man wird neugieriger.
Hast du eine Liste von Büchern, die du lesen willst?
Nein.
Über welches Buch sollte jeder sprechen?
Das ist eine zu große Frage für mich: Bücher, die für gesellschaftliche Diskurse geeignet wären… Ich schätze, alles über Antibiotikaresistenz, Klimawandel… aber darüber muss man sich ja nicht zwingend via Literatur informieren.
Liest du Jugendbücher?
Ja. Ich las neulich „Pippi Langstumpf“ vor und konnte nicht weiter, weil ich heulen musste. „Papa, was ist?“
Hast du im letzten Jahr eine(n) nicht-weißen AutorIN gelesen?
Ja, aber… doch, bestimmt.
Liest du mehr Männer als Frauen?
Wahrscheinlich – oder? Das habe ich mir noch nicht bewusst machen wollen.
Soll ich dir lieber zehn Bücher von Männern schenken als zehn Bücher von Frauen?
Ist mir wurscht.
Kennst du lesbische Autorinnen? Wen?
Die dann auch explizit lesbische Themen behandeln? Nein, wahrscheinlich nicht.
Bist du mit einem Autor bekannt, dessen Buch du schlecht findest?
Ja, auf jeden Fall.
Nenn ein Buch, das tröstet oder inspiriert.
César Aira: „Varamo“
Hast du schon einen self-published Author gelesen?
Ja. Da war der Titel so toll: „Gebet gegen Homo-Ehe, Windräder, Stromtrasse, Massentierhaltung und Israelische Besatzungsmacht. Das politische Gebet gegen Griechenland-Hilfen und Flüchtlingspolitik“. Ganz krude Feindbilder – das war Hammermist!
Soll ich dir lieber EIN gutes Buch nennen oder sagen, welche zehn aktuellen Bücher du dir sparen kannst?
Ein gutes.
Worüber wird zu wenig gesprochen im Literaturbetrieb?
Mir fällt nichts ein. Es wird ja dauernd gesprochen. Obwohl: Verkannte Autoren gibt es wahrscheinlich schon.
Hast du ein wichtiges Buch gefördert oder daran mitgeschrieben?
Ja. Bei Freunden: Bücher lesen, gegenlesen. Urs Mannharts „Bergsteigen im Flachland“ wurde nach dem Erscheinen vom Markt genommen, nach einem Plagiatsvorwurf. Er erwies sich als unbegründet, nach einem halben Jahr – aber das Buch war damit erledigt.
Gibt es einen Verlag, dessen Konkurs dich freuen würde?
Nein. Die Verlage erledigen sich ja selbst.
Sind diese Fragen „fies“?
Nein, anregend: Man fühlt sich sofort ungebildet.
Hast du dir heute schon ein Buch gemerkt? Welches?
Nein.
Hat man dir heute schon ein Buch geschenkt, geschickt oder versprochen?
Nein – aber auf Jón Gnarr wurde ich hingewiesen.
Welcher andere Autor hat dich am meisten überrascht?
Patricia Smith. Ihre Stimme und Peformance waren traumhaft.
Wer sollte das nächste Mal hier sein?
Denkst du, es gibt nochmal ein
Sprachsalz-Festival in Pforzheim?
Es lief sehr gut bisher – oder?
Franz Dodel schreibt ein Endlos-Haiku, in „Korrespondenzen“, seit Jahren. Ihm zuhören zu können, das würde ich gern allen schenken!
STEFAN MESCH schreibt als Kritiker und Literaturexperte für die ZEIT, Deutschlandradio Kultur und den Berliner Tagesspiegel. Bis 2008 studierte er Kreatives Schreiben & Kulturjournalismus in Hildesheim. Als Liveblogger begleitet er Lesungen, Literaturfestivals, Tagungen, z.B. den Open Mike oder die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Er lebt in Berlin und Eppingen und arbeitet an seinem ersten Roman, "Zimmer voller Freunde".
mehr im Blog: www.stefanmesch.wordpress.com
und auf Instagram, Facebook und Twitter
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