Beim Sprachsalz-Festival in Pforzheim lesen gut 20 Autorinnen und Autoren. Auf einem Büchertisch in der Hottellobby sind die meisten ihrer Bücher erhältlich. Ich selbst auf Goodreads, einer Buch- und Rezensions-Datenbank, 55 Sprachsalz-Titel zusammengestellt (Link hier).
Nicht von allen Autorinnen und Autoren fand ich Leseproben: viel von Jack Hirschman, Joachim Zelter, Vigdis Hjorth, Gerhard Rühm kenne ich noch nicht.
Doch von den Büchern, die ich fand und anlas, sind folgende acht meine Favoriten:
Literatur von Sprachsalz-Autor*innen, angelesen, sehr gemocht, vorgemerkt:
JOHN BURNSIDE, “Waking up in Toytown. A Memoir.”
- 262 Seiten, kein deutscher Verlag
- Original: UK 2010
- die Fortsetzung von “Lügen über meinen Vater”: Burnside als trockener Alkoholiker beim Versuch, im Leben auf die Beine zu kommen. Das Thema “Wie baue ich mir ein eigenes, erwachsenes Leben?” interessiert mich mehr als Burnsides Kindheits-/Vater-Buch.
“In the early 80s, after a decade of drug abuse and borderline mental illness, a man runs away to the suburbs, to live what he hopes will be a normal life. He resolves to ‘disappear into the banal’. The suburbs, though, are not quite as normal as he had imagined and, as he relapses into chaos, he encounters a homicidal office worker who is obsessed with Alfred Hitchcock and Petula Clark, an old lover, with whom he reprises a troubled, masochistic relationship and, finally, all his private phantoms – as he drifts further and further into unreality.” [Klappentext, gekürzt]
VIV ALBERTINE, “A typical Girl” [der US-Titel, Clothes, Clothes, Clothes. Music, Music, Music. Boys, Boys, Boys. ist unendlich viel besser!]
- 480 Seiten, Suhrkamp 2016
- Original: UK 2014, Deutsch von Conny Lösch
- Musiker-Biografien sind mir oft zu verquast. Zu Punk und 70er-/80er-Subkulturen fehlt mir der Bezug. Trotzdem: Ich las die ersten Seiten der Originalversion – und habe große Lust, dieser Frau zuzuhören!
“London, Mitte der Siebziger. In der revolutionären Ursuppe des Punk scheint alles möglich. Aber gilt das auch für Frauen? Gibt es außer Groupie, Elfe oder Rockröhre noch andere Rollen? Viv Albertine wurde zum Riot Girl, lange bevor es diesen Ausdruck gab.” [Klappentext, gekürzt]
YANNICK HAENEL, “Das Schweigen des Jan Karski”
- 188 Seiten, Rowohlt 2011.
- Original: Frankreich 2009, Deutsch von Claudia Steinitz
- kurzer, drastischer Roman über Verantwortung, Diplomatie, Spionage und Mitgefühl: Ich glaube, das ist ein Buch, das man in 4 Stunden lesen kann… und das dann 4 Monate im Kopf bleibt. [Es sei denn, es ist zu kurz – und damit oberflächlich, wie neulich beim französischen 160-Seiten-Historienroman “September” von Jean Mattern.]
“Zweimal wurde Jan Karski, Kurier des polnischen Widerstands, ins Warschauer Ghetto eingeschleust. Anschließend sollte er der Welt kundtun, was er über die Judenvernichtung wusste. Er berichtete vom Terrorregiment der deutschen Besatzer. Doch in England und Amerika mochte niemand seine Botschaft hören. Warum nicht? Diese quälende Frage verfolgte Jan Karski sein ganzes Leben lang. Und sie ließ ihn nach dem Krieg verstummen. Yannick Haenel gibt Karski nun eine fiktive eigene Stimme. Eine Stimme, die berührt – und die nicht ungehört geblieben ist.” [Klappentext]
JÓN GNARR, “Indianer und Pirat: Kindheit eines begabten Störenfrieds”
- 220 Seiten, Klett-Cotta 2015.
- Original: Island 2006 [Teil “Indianer”] und 2012 [Teil “Pirat”], Deutsch von Betty Wahl und Tina Flecken
- souveräne, aber vielleicht zu drollig-humoristische Memoir voller Island- und 80er-Jahre-Klischees… die mich aber stilistisch sehr überzeugt. Ich glaube, das ist ein kluges, entspanntes Wohlfühl-Buch über eine Anarcho-Jugend.
“Im ersten Teil seiner Autobiographie schildert Jón Gnarr eine Kindheit im Ausnahmezustand: seine Probleme mit dem Schulsystem, das schwierige Verhältnis zu den überforderten Eltern und die aufkeimende Liebe für die Ideen des Anarchismus. Gnarr erzählt von seiner schwierigen Kindheit und macht damit Eltern und Jugendlichen Mut. Denn auch ohne Schulabschluss kann man auf dem Bürgermeistersessel einer Hauptstadt landen.” [Klappentext, gekürzt, Zur ‘Sprachsalz’-Lesung Gnarrs habe ich hier geschrieben.]
PATRICIA SMITH, “Teahouse of the Almighty”
- 91 Seiten, keine deutsche Übersetzung
- USA 2006
- Smiths Gedichte sind sehr narrativ, dicht, manchmal fast journalistisch. Manchmal ist mir das zu didaktisch, belehrend oder gestellt. Doch die Leseproben aus “Teahouse of the Almighty” waren sehr stark – und live, im Vortrag, wird alles nochmal SO viel besser, strahlender: Bisher ist Patricia Smith meine größte ‘Sprachsalz’-Entdeckung. Unbedingt Auftritte ansehen/-hören!
“Patricia Smith has taken the stage as this nation’s premier performance poet. Featured in the film Slamnation and on the HBO series Def Poetry Jam, Smith is back with her first book in over a decade—a National Poetry Series winner weaving passionate, bluesy narratives into an empowering, finely tuned cele-bration of poetry’s liberating power.” [Klappentext, gekürzt; zur ‘Sprachsalz’-Lesung Smiths habe ich hier geschrieben.]
TAKASHI HIRAIDE, “For the Fighting Spirit of the Wallnut”
- 144 Seiten, keine deutsche Übersetzung
- US-Übersetzung 2008, japanisches Original ebenfalls 2008
- Hiraides Katzen-Kurzroman “Der Gast im Garten” nervt und enttäuscht mich: Kein unsympathisches Buch – doch ich verstehe nicht, warum in Deutschland oft die naivsten, schlichtesten, pastelligsten und harmlosesten Texte aus Japan besonders gefeiert werden (Murakamis “Gefährliche Geliebte”; die oft sehr kitschigen Comics von Jiro Tanizaki: je flacher, desto beliebter in Deutschland?). “For the Fighting Spirit of the Wallnut” ist eine kluge, verrätselte, mitreißende Textcollage – sperrig, komplex, und ein schönes, wichtiges Gegengewicht zum Katzen-Kuschelbuch. Mehr hiervon, bitte!
“An utterly original book-length poem unfold — a mix of narrative, autobiography, minute scientific observations, poetics, rhetorical experiments, hyper-realistic images, and playful linguistic subversions — all scored with the precision of a mathematical-musical structure. The radiant subway. The wall that clears up, endless. A thundering prayer of steel that fastens together the days, a brush of cloud hanging upon it, O beginning, it is there—your nest.” [Klappentext, gekürzt]
JOACHIM ZELTER, “Die Schule der Arbeitslosen”
- 208 Seiten, Deutschland 2006.
- erschienen bei Klöpfer & Meyer.
- Satire/Dystopie über die marktliberale, hyperkapitalistische “Strengt euch doch an!”-Volkserziehung, mit der die Wirtschaft oft über Arbeitslose spricht: könnte etwas schlicht/durchschaubar sein – doch die ersten Seiten machten mir Spaß, und Zelters Sätze, Pointen und Effekte sitzen. Das Buch ist zehn Jahre alt: Ich hoffe, es hat trotzdem noch Visionen/Biss!
“Deutschland, in naher Zukunft: Eine Gruppe Reisender fährt einer neuartigen, überaus angepriesenen Fortbildung für Arbeitslose entgegen: das Trainingslager »Sphericon«. Der Bus trägt das Logo der Bundesagentur und den Slogan »Deutschland bewegt sich«. Ihr Essen erhalten sie aus Automaten, in Menge und Qualität gestaffelt nach den Leistungen der Vorwoche. Und dann gibt es noch die Stelle eines »Sphericon«-Trainers, um die sich die Teilnehmer bewerben sollen. Mit allen Mitteln.” [Klappentext, gekürzt. Zur ‘Sprachsalz’-Lesung Zelters habe ich hier geschrieben.]
CLAIRE KEEGAN, “Das dritte Licht”
- 96 Seiten, Steidl Verlag 2013.
- Original: Irland 2010, Deutsch von Hans-Christian Oeser
- Der Klappentext ließ mich Armuts- und Heimatkitsch vermuten – doch als ich die deutsche Ausgabe anlese, weiß ich: Das wird toll. Ich will das lesen! Erst später merke ich, dass ich das irische Original schon vor Jahren angelesen habe – und damals als “furchtbar!” aussortierte. Es liegt am Erzählton: Auf Deutsch routiniert-klar-literarisch. Auf Englisch bäuerlicher, kindlicher, rustikal-gefühlvoller. Falls ich das Buch lese, brauche ich den deutschen, kühleren Ton.
“Eine kleine, große Geschichte darüber, was ein Kind zum Leben braucht: An einem heißen Sommertag, gleich nach der Frühmesse, liefert ein Vater seine kleine Tochter bei entfernten Verwandten auf einer Farm im tiefsten Wexford ab. Seine Frau ist schon wieder schwanger, noch ein Maul wird zu stopfen sein. Sollen die kinderlosen Kinsellas die Kleine also ruhig so lange dabehalten, wie sie wollen… Hier gibt es einen Brunnen, der nie austrocknet, Milch und Rhabarber und Zuwendung im Überfluss. Hier gibt es aber auch ein trauriges Geheimnis, das einen Schatten auf die leuchtend leichten Tage wirft.” [Klappentext, gekürzt]
…auch auf eines neues Buch von Christoph Simon bin ich gespannt: Ich mochte seine Textsammlung “Viel Gutes zum kleinen Preis” (2011, Foto unten) – und warte auf etwas Längeres, Neues.
STEFAN MESCH schreibt als Kritiker und Literaturexperte für die ZEIT, Deutschlandradio Kultur und den Berliner Tagesspiegel. Bis 2008 studierte er Kreatives Schreiben & Kulturjournalismus in Hildesheim. Als Liveblogger begleitet er Lesungen, Literaturfestivals, Tagungen, z.B. den Open Mike oder die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Er lebt in Berlin und Eppingen und arbeitet an seinem ersten Roman, "Zimmer voller Freunde".
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