Von Milena Michiko Flašar ein kurzer Auszug aus " Ich nannte ihn Krawatte" (erschienen bei Wagenbach):
Ich bin kein typischer Hikikomori. Keiner, von dem in den Büchern und Zeitungsartikeln, die man mir dann und wann zur Lektüre auf die Schwelle legt, die Rede ist. Ich lese keine Mangas*, ich verbringe den Tag nicht vor dem Fernseher und die Nacht nicht vor dem Computer. Ich baue keine Modellflugzeuge. Von Videospielen wird mir schlecht. Nichts soll mich ablenken von dem Versuch, mich vor mir selbst zu bewahren. Vor meinem Namen etwa, vor meinem Erbe. Ich bin der einzige Sohn. Vor meinem Körper, dessen Bedürfnisse nicht aufgehört haben, mich zu erhalten. Vor meinem Hunger, vor meinem Durst. In den zwei Jahren, die ich abgesessen habe, überkam mich mein Körper drei Mal am Tag. Ich schlich dann zur Tür, öffnete sie einen Spalt weit, nahm das Tablett hoch, das Mutter mir hingestellt hatte. Wenn niemand zu Hause war, schlüpfte ich hinaus ins Badezimmer. Ich wusch mich. Seltsam, dieses Bedürfnis, mich zu waschen. Ich putzte mir die Zähne und kämmte mir die Haare. Sie waren lang geworden. Ein Blick in den Spiegel: Es gibt mich noch. Ich unterdrückte den Schrei, der in meiner Kehle saß. Auch vor ihm wollte ich mich bewahren. Vor meiner Stimme, vor meiner Sprache. Der Sprache, in der ich nun festhalte, dass ich nicht weiß, ob es den typischen Hikikomori überhaupt gibt. Sowie es die unterschiedlichsten Zimmer gibt, gibt es die unterschiedlichsten Hikikomoris, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen und auf die unterschiedlichste Art und Weise in sich verkrochen haben. Während der eine, ich habe von ihm gelesen, seine dahinschwindende Jugend damit verbringt, die immer gleiche Melodie auf einer nur dreisaitigen Gitarre einzuüben, hat der andere, auch von ihm habe ich gelesen, eine Sammlung von Muscheln angelegt. Nachts, wenn es dunkel ist, läuft er, die Kapuze überm Kopf, ans Meer, und kehrt erst dann wieder heim, wenn der Morgen graut.
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