5 Lesungen: Joachim Zelter, Jón Gnar, Christoph Simon, Jack Hirschman, Patricia Smith

Foto: Marc Tschudin
Foto: Marc Tschudin

 

Eine Lesung bei Sprachsalz dauert 30 bis 40 Minuten:

 

Vorstellung durch einen Moderator.

Vorlesen; bei deutschsprachigen Autor*innen gut 30 Minuten lang.

Bei fremdsprachigen Autor*innen viel kürzer – denn danach lesen Schauspieler, Sprecher die selbe Passage noch einmal in deutscher Übersetzung.

 

Raum für Fragen – durchs Publikum oder Moderatoren – gibt es leider nicht. Für mich ist das der Lieblingsteil jeder Lesung: Mir fehlt es hier, sehr. Trotzdem versuche ich, hier auf dem Festival neben dem Schreiben/Bloggen so viele Lesungen wie möglich zu besuchen. Ich bin nicht immer die volle Zeit im Raum – besonders, wenn die Schauspieler loslegen, werde ich ungeduldig.

 

Doch alle Autor*innen lesen zweimal, meist an verschiedenen Festivaltagen. Deshalb sehr kurz, von mir, als Empfehlung oder kurzes Feedback: ein paar (flüchtige) Eindrücke von den jeweiligen Lesungen.

 

 

Heute: Joachim Zelter, Jón Gnar, Christoph Simon, Jack Hirschman, Patricia Smith

 

Foto: Denis Mörgenthaler.
Foto: Denis Mörgenthaler.

 

Joachim Zelter:

 

[nächste Lesung: Samstag, 14 Uhr.]

 

Ein Tübinger Autor – mit Schildkappe, leger gekleidet: „Der einzige Lesende, der auf dem Fahrrad anreiste“, sagt die Orga. Joachim Zelter wirkt ansprechbar, allürenfrei – und er liest exzellent vor: Seine Novelle „Wiedersehen“ folgt einem Germanisten, der jahrelang im Internat von einem schroffen, unkonventionellen Deutschlehrer motiviert wurde. Nach Jahren treffen sich Schüler und Lehrer wieder – doch dem Kafka-Experten ist nicht klar, dass sein alter Mentor ihn überall vorzeigen will: Der Ex-Lehrer hat Hunderte Menschen eingeladen, zu einem großen Gartenfest und Vortrag.

  

Ich bin nicht sicher, ob ich die Novelle lesen, mögen würde: Sehr viele Sätze sind auf Pointe getrimmt. Humor - in recht breiten Pinselstrichen. Doch Zelter liest SO gut vor, spricht so charmant… bisher die Lesung mit der besten Stimmung, dem hingerisstensten Publikum. Gut, dass Tübingen einen solchen Könner, Unterhalter, Charmebolzen hat!

 

Foto: Marc Tschudin
Foto: Marc Tschudin

 

Jón Gnar

 

[nächste Lesung: Samstag, 14 Uhr.]

 

Der ehemaliger Bürgermeister Reykjaviks spricht über seine Pubertät: drollige, gefällige, sehr sorgfältig und sourvän erzählte Erinnerungen über Punk in den 80ern, Provinzunglück und derbe Nachbarsmädchen, auch auf Deutsch ein Leichtgewicht (Thema, Tiefgang), aber stilistisch in der A-Liga (toll formuliert, jedes Wort sitzt).

 

 

Gnar gehört zu den größten Namen des Sprachsalz-Festivals – und wirkt offen, entspannt, gutmütig. Leider braucht sein Englisch eine Weile, um in Fahrt zu kommen: Er spricht eine Handvoll unsicherer Sätze. Liest dann eine Mini-Passage auf Isländisch. Und muss dem Rest der Lesung lang einem Schauspieler/Synchronsprecher zuhören, der die deutsche Übersetzung vorträgt. Als Autorenlesung und, um Gnar auf einer Bühne zu erleben, war mir das zu wenig.

 

statt Christoph Simon: der Anfang eines Christoph-Simon-Kunstmärchens, erschienen in "Viel Gutes zum kleinen Preis", bilgerverlag 2011.
statt Christoph Simon: der Anfang eines Christoph-Simon-Kunstmärchens, erschienen in "Viel Gutes zum kleinen Preis", bilgerverlag 2011.

 

Christoph Simon:

 

[nächste Lesung: Sonntag, 15 Uhr. Schon Samstag um 17 Uhr spricht er mit Safiye Can im 'Sprachsalz-Club' über das eigene Schreiben.]

 

Ein Schweizer Lyriker, Erzählkünstler, Spoken-Word-Unterhalter, Karikaturist und Satiriker, geboren 1972 – doch noch immer sehr jugendlich, schnell, scharf, gewitzt: Christoph Simon ist eins der Highlights des Festivals und machte auf mich großen Eindruck, als er nicht vorlas – sondern einfach loserzählte, wie ein Stand-up-Comedian:

 

 

Bittere, rotzige Geschichten über Menschenhass, nervigen Familienalltag, Zivilisationsmüdigkeit, nörgelnde Eltern, Hass-Anfälle beim Public Viewing und Starbucks-Geschenktassen als Pfand der großen Liebe. Großartigst vorgetragen. Jeder Satz gespitzt - und auf drei, vier Arten verquer, klug, böse, witzig. Mir fiel nur auf, wie viele blöde und verblödete Frauenfiguren Simon zeigt - Witze über Silikonbrüste, Comedy-Frauen- und Feindbilder wie bei Mario Barth. Ich weiß nicht, ob ichs „chauvinistisch“ nennen würde. Doch „progressiv“ ist es sicher nicht. (Die alten Herren im Publikum fanden's geil.)

 

Foto: Denis Mörgenthaler - rechts im Bild: Jack Hirschman
Foto: Denis Mörgenthaler - rechts im Bild: Jack Hirschman

 

Jack Hirschman:

 

[nächste Lesung: Sonntag, 13 Uhr.]

 

Hirschman ist eine Ikone der US-Counterculture, Experte für Beat Poetry und, glaube ich, ein strittiger, kluger, lockerer und erfahrener Lyriker. Trotzdem war ich nicht lange in seiner Lesung: Er spricht langsam [kein Drama], und seine Gedichte sind voller antikapitalistischer Sticheleien und Pointen [großes Drama!].

 

Großes Drama – weil geschieht, was ich fast immer geschieht, wenn ich eine Lesung besuche, auf der US-Autor*innen vor einem beflissenen deutschen Publikum Witze machen, auf Englisch: viel zu lautes, viel zu selbstzufriedenes Gelächter – als wollen die deutschen Zuhörer beweisen: „Mein Englisch ist gut genug, dass ich den Witz begreife, mitlachen kann.“ Gedichte, die mir zu sehr vorkamen wie Zeitungs-Karikaturen, voller Witz- und Schmunzelbilder. Ein recht langsamer Vortrag. Und ein Saal voller Leute, die das fantastisch lustig finden – oder so tun.

 

 

Ich glaube, Hirschman hätte viel zu erzählen. Doch ihm zuhören, wie er mit Märchenonkelstimme Lyrik abliest, die durch dieses Vorlesen nicht viel gewinnt? Nichts für mich. Vielleicht für Leute, die Liedermacher mögen, oder (sanftes, ironisches) Kabarett.

 

Foto: Denis Mörgenthaler
Foto: Denis Mörgenthaler

 

Patricia Smith

 

[nächste Lesung: Sonntag, 16 Uhr.]

 

Wow. Zuerst liest Ariela Salbacher, Schauspielerin aus Zürich: kluge, bezugsreiche, sehr bildstarke, erzählerische, in tausend Richtungen greifende und denkende Langgedichte - wunderbar übersetzt, wunderbar vorgetragen. Ich könnte das zwei Stunden lang hören! Dann trägt Patricia Smith vor, im US-Original – noch zehnmal melodischer, zehnmal performativer, wogend, schwärmend, bellend, singend, leidenschaftlich: Ihre Gedichte sind gut. Doch DAS kann man nicht nachlesen. DAS muss man hören. Erleben!

 

 

Anspruchsvolle sozialkritische US-Gegenwartslyrik, von einer Frau vorgetragen, die vor Energie fast birst: Ich kann nicht versprechen, dass es jeder lieben wird – doch immer mehr aktuelle Filme und US-Serien feiern gerade energische, lebendige, beißend kluge schwarze Frauen. Im selben Raum zu sein mit Smith ist ein… kleines Geschenk: Nehmt das mit! Hört zu! Ich war beeindruckt.

 

...und sage das als jemand, der Literaturkritiker hasst, die dauernd das Wort „beeindruckt“ benutzen.


 

STEFAN MESCH schreibt als Kritiker und Literaturexperte für die ZEIT, Deutschlandradio Kultur und den Berliner Tagesspiegel. Bis 2008 studierte er Kreatives Schreiben & Kulturjournalismus in Hildesheim. Als Liveblogger begleitet er Lesungen, Literaturfestivals, Tagungen, z.B. den Open Mike oder die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Er lebt in Berlin und Eppingen und arbeitet an seinem ersten Roman, "Zimmer voller Freunde".

 

mehr im Blog: www.stefanmesch.wordpress.com

und auf Instagram, Facebook und Twitter


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Kommentare: 2
  • #1

    Imke (Samstag, 07 Mai 2016 00:25)

    Danne für die Zusammenfassung! :)

  • #2

    Imke (Samstag, 07 Mai 2016 00:26)

    ... DanKe...